top of page

Ein Text von Stefan Ewald (2020)

Gefühl, Bedürfnis und Begehren: Collagen und Objekte

Ich glaube, jede Person fragt sich irgendwann einmal, ob sie eigentlich pervers ist. Wahrscheinlich stellt sich die Frage nach der eigenen Perversion weniger im sexuellen Rahmen, sondern eher im ungefährlichen Alltag, nämlich dann, wenn wir uns fragen, wieso wir gerade diese gegensätzlichen Zutaten für eine Mahlzeit zusammenmischen oder uns für dieses abgeschmackte Kleidungsstück entscheiden konnten. Nutella und Salami ergeben eine faszinierend-abartige Melange. Wenn etwas pervers ist – so denken wir landläufig – ist es nicht richtig. Da stimmt etwas nicht, sagen wir uns. Und dennoch liegt in dieser Unstimmigkeit eine gewisse Faszination, die dem Betrachter ein schiefes Grinsen beschert.

Der Perversion wohnt für gewöhnlich etwas Schräges oder Bedrohliches inne, jedenfalls spricht man nicht von tollen Perversitäten oder feiert einen Sachverhalt als geglückte und erhellende Perversion. Doch pervers bedeutet ursprünglich nicht mehr und nicht weniger, als dass etwas verdreht oder verkehrt ist. Wenn ich die Kunst von Iris Musolf betrachte, frage ich mich, was an ihren Skulpturen oder Collagen eigentlich nicht stimmt, was wird hier verdreht oder verkehrt? Sie sind doch so bunt, witzig und quietschig. Sie laden zu dem altbekannten Ratespiel ein, das da lautet: Was zum Teufel ist das eigentlich? Ist es Spielzeug? Ein futuristischer Landschaftsgarten? Digitale Überwachungstechnik? Für jeden ist etwas dabei, jeder erkennt das ein oder andere Toy, kann vielleicht sogar von technischen Erfahrungen berichten und somit zum Kunstkenner avancieren.

Hinter der leuchtenden Happiness von Musolfs Collagen und der vermeintlich knautschigen Leichtigkeit ihrer Objekte liegt jedoch ein Unbehagen verborgen. Einen Einstieg in dieses Unbehagen finden wir über die Collagen, die uns mit ihrer zuckrigen Ästhetik anlocken und so unsere Aufmerksamkeit erobern. Die verführerischen, farbenfrohen Oberflächen könnten nicht glänzender, samtiger und deshalb auch nicht harmloser daherkommen. Die Künstlerin arrangiert Sex Toys zu symbolisch anmutenden Arrangements, verleiht ihnen ein eigenes Leben, indem sie zu sexuellen Super-Maschinen oder Mutanten aufgerüstet werden, deren Funktion uns allerdings unbekannt bleibt. Was können diese Dinge eigentlich? Welche Versprechungen machen mir diese bunten Geräte? Iris Musolf thematisiert mit ihren Collagen eine Art Hyper-Sex, eine Super-Sexualität, eine ganze Industrie, die bei der zwischenmenschlichen sexuellen Begegnung ihren Ausgang nimmt und über kommerzielle Ersatzobjekte hin zu alienartigen Konstruktionen und futuristischen Lustgärten führt. Befriedigende, liebevolle Selbst- und Fremdfürsorge ist mit diesen Objekten schon lange nicht mehr möglich. Oder doch? Ich frage mich, was für einen Menschen es braucht, um diese Mutanten-Masturbatoren nutzbar zu machen. Wie sehen die Endverbraucher in ein paar Jahrzehnten aus? Wie viele Löcher wird es in der Zukunft zu stopfen geben? Die Arbeit von Iris Musolf spricht von dem Begehren, dem Versorgt-Werden-Wollen, das in jedem von uns von der Geburt an einprogrammiert ist und uns nicht mehr verlässt. Doch was passiert, wenn dieses Begehren, der Wunsch nach Fürsorge und Gesättigtsein, aufgrund gestörter Beziehungsverhältnisse nicht mehr realisierbar ist? Wie befriedige ich mich, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, mich einem Gegenüber zu öffnen? Was mir ein Mensch geben könnte, sollen mir nun die Farben geben, die Noppen, Rillen und technischen Extras, die upgradebar sind und zur Not ausgetauscht werden können.

 

Betrachten wir den Springbock. Hierbei handelt es sich um den Abguss eines aufblasbaren Kissens aus Plastik, dem ein Loch in seine Oberseite eingearbeitet ist. Wem dieses Loch dienlich oder nicht dienlich sein soll, verbleibt unklar. Ebenso stellt sich die Frage, wie auf diesem Bock geturnt werden kann, wenn man seine dünnen, schwarz lackierten Beine betrachtet, die bei jeder körperlichen Verausgabung abzubrechen drohen. Auf diesem Bock ist also kein Herumturnen möglich, nicht allein und erst recht nicht mit anderen. Ich frage mich, was ich mit diesem Gerät anfangen könnte. Das Loch, nach oben ausgerichtet, ist unbumsbar, ich wüsste nicht, wie ich den Bock effektiv besteigen sollte. Das ehemals weiche Luftkissen besteht nun aus hartem Carrara Acrystal. Das Gerät macht mir ein Versprechen („Komm, nimm mich!“), das es nicht einhält („Ich sage dir aber nicht wie!“). Hier eröffnet sich ein Spannungsfeld, ein quasi neurotisches Beziehungsmuster. Du kannst mich haben, wenn du willst, aber ich lasse dich nicht, sobald du dich für mich entscheidest. Der Springbock bockt und wieder befinden wir uns im Strudel andauernder Unzulänglichkeiten.   

 

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hinterfragt die Eigenart sexueller Perversion, indem er ihr ein Bild reifer Sexualität gegenüberstellt. Reife Sexualität, so Nagel, zeichne sich durch eine wechselseitige Wahrnehmung aus, die mehrere Stadien durchlaufe (vgl. Nagel 2000, S. 38). Ich begehre dich, was dich erregt, und weil ich deine Erregung auf mein Begehren wahrnehme, steigert sich wiederum meine Erregung. Aus diesem Wechselspiel gegenseitigen Begehrens und Erregens entwickelt sich laut Nagel das, was er als reife Form der Sexualität versteht. Formen des Sexuellen, die dieses Wechselspiel nicht ermöglichen, fallen für ihn in den weiten Bereich des Perversen.

 

Wir begreifen, dass die vorgestellten Bilder und Objekte von Iris Musolf gar keine Form wechselseitigen Begehrens ermöglichen, sondern wenn überhaupt nur eine Form spezieller, dysfunktionaler Autoerotik, deren trauriger Charakter durch grellbunte Farben überformt oder – mit Blick auf den Bock gerichtet – als sporttechnische Spielstätte umfunktioniert wird (die aber auch nicht mal funktioniert!). Das eigentliche Unbehagen, das in der verzerrten, unmöglich gewordenen Selbstbefriedigung liegt, wird durch seine Umfunktionierung noch weniger erkenntlich gemacht und somit immer tiefer in der Bilderwelt vergraben.

 

Eine auf Gegenseitigkeit beruhende Sexualität, die dem sozial und psychisch isolierten Menschen nicht zur Verfügung steht, wird mit Farbe und Fröhlichkeit in die Objekte hineingelegt, um so die Gefühle des Scheiterns von Konsumenten spielerisch abzudämpfen. Dort, wo Sexualität auch mit einem Ersatzobjekt - dem Bock - nicht mehr funktional ist, wird sie als sportliche Leistung sublimiert und somit dem Ich besser verständlich gemacht, frei nach dem Motto: Auch wenn ich nicht befriedigt bin, konsumiere ich, bleibe ich durch die körperliche Ertüchtigung immerhin schlank und fit dabei.

Iris Musolf offenbart uns mit ihrer Arbeit die oberflächlichen Spiele der Erwachsenen. Jene Spiele, die durch die völlige Kapitalisierung von Intimität, durch die Entwicklung von Tinder, virtuellen Realitäten und Co immer mehr an Fahrt gewinnen. Die Soziologin Eva Illouz sieht in der Kommerzialisierung des Intimlebens die Verschmelzung mit der bunten Welt der Waren. Gefühl, Bedürfnis und Begehren, die der Sexualität als Fundament dienten, wurden nun durch den Konsum ersetzt (vgl. Illouz 2018,  S.82f.). Ich stelle es mir so viel einfacher vor, Sex zu kaufen, als ihn mir durch Beziehung zu erarbeiten. Wenn ich mir etwas kaufe, dann verbessere ich meinen Status, je nach Ware und Zeitgeschmack. Die gekaufte Liebe bringt mir also nicht mehr die Liebe des sexuellen Gegenübers ein, sondern die Liebe meiner Follower; die Liebe derjenigen, die liken, was ich geliket habe. Sie belohnen mich mit Zuwendung dafür, dass ich mir die Zuwendung eines anderen teuer erkauft habe.

 

Die Künstlerin thematisiert das Hadern des Menschen mit persönlichen, körperlichen Beziehungen und den Eskapismus in die Welt der bunten Ersatzbefriedigung, in der alles immer und jeder Zeit per Knopfdruck, Mausklick oder App verfügbar zu sein scheint. Hinter den fröhlichen Farben und bauchigen Formen liegt eine Erzählung über das Unvermögen mancher Personen versteckt, für die eine wirkliche, auf emotionale und körperliche Zugewandtheit basierende Beziehungsdynamik nur im Spiel simuliert werden kann.   

Uns Betrachtern bleibt nichts anderes übrig, als uns zu positionieren. Ich frage mich, welchen Grad perverser Struktur meine eigene Beziehungswelt und Sexualität bereits erworben haben und inwiefern meine Partner zu reinen Konsumobjekten geworden sind, ohne, dass ich es vorher wirklich bemerkt habe. Letztendlich stellt sich die Frage, ob Begehren nicht immer schon zum Konsumverhalten führte und ob dies – für uns alle – unausweichlich ist.

 

Literatur: Illouz, Eva: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin 2018.

Nagel, Thomas: "Sexuelle Perversion", in: Balzer, Philipp und Rippe, Klaus Peter (Hrsg.): Philosophie und Sex. Zeitgenössische Beiträge, München 2000, S. 25-45.

bottom of page